Warum Kunst (Essay)

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Warum Kunst ?

Wilhelm Schäberle

Kunst bestärkt die Vorstellungskraft und regt zum kritischen Denken an. Wenn ein Kunstwerk gegenständlich verbleibend Assoziationen weckt und so konkret bleibt, dass Intention des Kunstwerks und Aussage im Kunstgegenstand sich dem Betrachter auch spontan, zumindest andeutungsweise erschließt, kann dieses den Betrachter auf neue Ideen, Gedanken und Problemlösungen bringen. Beschäftigung mit Kunst regt an, Lebensumfeld und Problemstellungen anders zu betrachten und neu zu denken. Kunst muss den Widerstand gegen das Bestehende unterhalten.

Oder um Adornos Gedanken in „Ästhetische Theorie“ aufzunehmen: solange Leben anders ist als es sein sollte, braucht es Kunst; es muss auch Kunst geben, um das Bewusstsein der Negativität solchen Lebens wachzuhalten und die Erinnerung an das, was noch nicht ist, aber sein könnte, das noch ausstehende Glück. Wahre Kunst wirkt traurig und ernste Kunst ist Utopie: Sie verweist auf die Vorläufigkeit einer empirischen Realität, in der kein Glück von Dauer ist. In diesem Sinne geht Kunst in Philosophie über.

Kunstwerke enststehen in Auseinandersetzung von verschiedenen Ebenen erlebter Wirklichkeit – einer inneren und äußeren Realität – einer reellen, virtuellen, erdachten oder geträumten Realität – einer subjektiven und einer objektiven Realität. Kunstobjekte versuchen diese Realitäten in ihrem Spannungsfeld zu schaffen, auszudrücken, abzubilden, zu verfremden oder auf ganz anderer Ebene neu zu erschaffen – sie versuchen zu irritieren, die Realität in Frage zu stellen oder zu intervenieren und eine Utopie entgegenzustellen.

Drei Komponenten bestimmen eine publikumsabhängig sehr unterschiedlich motivierte Auseinandersetzung mit Kunstwerken: Ästhetik, Ausdruck und Intention, Wertanlage

Ästhetik: Farbkomposition, ästhetische Form, harmonische Gestaltung und andere ästhetische Stilmittel sind nicht geprägt durch absolute ästhetische Vorstellungen sondern von sozialisierten, gesellschaftlich geprägten Schönheitsidealen und ästhetischen Mustern abhängig.

Ästhetische Gestaltungelemente und Zielsetzungen können in Präsentationskunst die führende Komponente in der Bildgestaltung sein.

Ziel ästhetischer Gestaltung kann auch sein, den Blick so auf ein Kunstwerk zu so lenken, dass seine Aussagekraft zur Wirkung kommen kann. Flüchtige Wahrnehmungsgewohnheiten in Zeitmangel und Überfrachtung von Wahrnehmungsreizen brauchen eye-catcher zur selektiven Wahrnehmung – ästhetische Ausdrucksfom kann einer sein. Gezielt unästhetische, abschreckende, schockierende Darstellung kann ähnliches bewirken meist verweilt der Betrachtende weniger lang dabei, läßt sich weniger darauf ein, entwickelt weniger Empathie zum Kunstwerk. Empathie entwickelt mehr Assoziationen, regt im Betrachter Prozesse an, regt zum Mitdenken an, zu neuen Lösungsansätzen.

Ausdruck: Ausdruck und künstlerische Aussage waren früher eher in religiösen, metaphysischen Inhalten verkörpert. Auch in der Historienmalerei die, die Realität als historische Situation oft relativ objektiv abzubilden versuchte, wurden Interpretationen (zum Beispiel durch stimmungsbetonende Farbspiele, Lichteffekte) des Künstlers ausgedrückt. In der Interaktion mit ihrer Umwelt, mit Kunstströmungen, historischem Kontext und gesellschaftlichen Erwartungen haben Künstler auch unterschiedliche Formen, Malmittel, Stilmittel und Stilelemente zum Ausdruck verwendet.

Impressionistische Ausdrucksformen mit Betonung der subjektiven Sinneseindrücke (innere Gefühle) und der Stimmungen des Augenblicks vor allem mit Motiven aus der Natur wurden durch expressionistische Strömungen abgelöst, die eigene Stimmungen in Situationen (zum Teil gesellschaftskritisch) einbringen und dabei Gegenstände verfremdet darstellen, wobei kontrastierende Farben dominieren und die Wirklichkeit in ihren Kunstwerken auch überzeichnet wird, um den gewünschten Ausdruck zu pointieren und auf die Aussage zu fokusieren.

Künstlerische Auseinandersetzung thematisiert auch Zeitkritik, Kritik an herrschenden gesellschaflichen Normen, Werten, Lebensformen und politischen Systemen.

In vielen Strömungen der modernen Kunst dominiert die angestrebte Aussage und der gewünschte Ausdruck über ästhetische Kriterien.

In speziellen Installationen und bedingt durch Größe und Stilmittel wird sie nur in speziell geschaffenen Räumen ausstellbar und entrückt Kunst aus dem Alltag – sie wir dadurch nur einem speziell interessierten Publikum zugänglich.

Ausgeprägte Formen der Abstraktion und der Verfremdung machen Kunst zum Gegenstand der Diskussion und der Interpretation. Dies führt auch zu einer in Kauf genommenen oder selbst gewählten Abgrenzung dieser Kunst und zu gewisser Extravaganz.

Andererseits versucht Gebrauchskunst (in anderen Kulturen und früher verbreiteter als bei uns heute), bei Erhalt von deren Funktion, alltäglichen Gebrauchsgegenständen eine künstlerische Dimension zu geben und will Kunst in den Alltag zu holen. Ästhetik tritt hier in den Vordergrund, aber gezielt eingebrachte, eventuell durch Abstraktion oder Farbgestaltung verfremdete Themen und Szenen können durch diese, in den Alltag zurückgebrachte Kunst, alltäglich zum Nachdenken anregen und dies lässt sich speziell in als Gebrauchsgegenstand nutzbaren Skulpturen auch gut verwirklichen.

Entscheidend ist auch der Kontext in dem Kunst entsteht: wann und wo; in welcher Situation und unter welchen historischen Umständen – darin bekommt das Werk seine künstlerische Identität.

Manche beabsichtigte Aussage und manche Ausdrucksform in einigen meiner Skupturen wäre vor einigen Jahrzehnten unverständlich gewesen, oder in ihrer Aussage wenig ansprechend oder sie würde nicht diese Konfrontation auslösen.

Die Ausdrucksform wandelt sich in Epochen stark und führt zu unterschiedlichen Stilrichtungen.

Auch die Intention einer künstlerischen Darstellung hat sich stark gewandelt: von die Wirklichkeit abbildend (Porträtmalerei), naturgetreu wie ein Photo, verklärte Zukunft konkretisierend in der Vorstellung durch religiös vorgegebene Themen, hin zur Pointiering auf den als wesentlich angesehenen Inhalt und die beabsichtigte Aussage durch Abstraktion, Reduktion, Verfremdung und Einsatz von verstärkenden Stilmitteln.

Wertanlage: Wertanlage geprägt durch Materialwert, ideellem Wert, Marktwert (abh. von Künstlername, Bekanntheitsgrad, gesellschaftlicher Wert von Kunstgegenständen an sich, materiellem Lebensstandard). Sammlerleidenschaft, Sammlerintention, Sammlervorlieben, Kunsttrend, materieller Reichtum von Sammelwilligen.

Die Bedeutung und Gewichtung dieser drei Komponenten kann sich für Kunstgegenstände auf dem historischen Hintergrund und den gesellschaftlichen Bedingungen auch verändern.

Ob ein Gegenstand zum Kunstwerk wird, ist nicht primär von seiner materiellen Beschaffenheit abhängig sondern von seiner darin ausgedrückten Aussage, Intention und Aussagefähigkeit – Kunst geht in Philosopie über.

So können einfache Gebrauchsgegenstände wie Verpackungskartoons, Abfallgegenstände, an sich belanglose oder zufällig positionierte Reiszwecke an der Wand durch das Umfeld, die gestaltete Umgebung, den Kontext, die Intention und die zugeschriebene Aussage zum Kunstwerk werden. Ein zerbeultes und verbogenes Fahrrad kann in einem Museum zum Kunstobjekt werden, wenn dieser Gegenstand neue Einsichten erzeugt und in der Herausstellung in neu erzeugter Umgebung eine neue Wirklichkeit erschafft.

Selbst wenn Kunstwerke derart abstarkt gehalten sind, dass nicht erkennbar ist, was sie repräsentieren oder darstellen, so erschaffen sie durch neue Formen, Farbkompositionen und entfremdeter Symbolik eine neue Welt, bekommen durch pointierten Kontext, historischen Hintergrund sowie räumliche Verfremdung eine Aussage oder weisen darauf hin. Eine große, flächig graue Leinwand ist so Ausdruck und Wirklichkeit, Hinweis und Vorwegnahme der Grauheit einer sozialen oder politischen Erfahrung oder Utopie.

Kunst verändert Wirklichkeit und Wirklichkeit verändert Kunst. Was gestern noch realistisch abgebildet erschien kann morgen Karikatur sein, was gestern eine Utopie exemplifizierte kann heute Realitäten widerspiegeln. Kunst wird Teil des gesellschaftlichen Abbildes im historischen Kontext und der historische Hintergrund prägt das Kunstwerk, jede Zeit schafft ihre ganz eigenen Kunstwerke in Stilmittel, Zielsetzungen, ästhetischen Ausdrucksformen sowie deren Bedeutung und Sinngebung und Kunst prägt wie auch Wissenschaft die Gestaltung der Wirklichkeit. So wären manche modernen Kunstwerke vor Jahrhunderten oder selbst vor einigen Jahrzehnten nicht als Kunstwerk erfahrbar, erlebbar und verständlich gewesen, sondern sind es erst heute.

Ebensowenig wie vom Kontext in dem es entstanden ist, kann ein Kunstwerk von der kunstschaffenden Person getrennt werden, ohne seine Identität zu verlieren. Eine Strichzeichnung einer Taube von Picasso oder einem Schulkind bekommen beide eine ganz spezifische und eigene künstlerische Aussage, exemplifizierte Utopie und Identität – auch unabhängig von der gesellschaftlichen und pekuniären Wertschätzung.

Kunst bedient sich „Metaphern“, bekommt ihre Aussagekraft durch Verfremdung, durch Symbole, die bildhaft Lebens- und Problemwelten in einen anderen, künstlerischen Kontext stellen und neue Gedanken, Ideen, Lösungsansätze eröffnen.

Mit dem Ziel Assoziationen zu wecken können Symbole mehrdeutig verwendet sein und eine zum Thema „Lebenswelten – Problemwelten“ in meinen Skulpturen häufig wiederkehrende Symbolfigur ist die Schlange; auch wegen ihrer tiefsinnigen und vielfältigen Symbolik (oft aus der Antike kommend):

  • Schlange als Symbol der Erdhaftigkeit, soll die (untrennbare) Verbindung bestimmter Skulptureninhalte mit der Natur illustrieren.
  • Schlange als Symbol der Ambivalenz: Gift, Bedrohung, Gefahr, List und in ihrer Häutung: Neuanfang Wiedergeburt. So symbolisiert sie unser von Ambivalenz geprägtes menschliches Dasein, die in vielen meiner Skulpturen thematisiert ist, wie auch unsere dualistische Handlungsoptionen, Gutes und Böses realisieren können.
  • Schlange als verehrtes Tier, wie in griechischen Tempeln gehaltene zahme Schlangen, auch Tugenden des ärztlichen Berufs in der Antike verkörpernd, wie scharfsinnig, wachsam, zielstrebig, schlau. Sie geht auch in Symbolik des ärztlichen Berufsstand wie auch des Handels ein. Lebens- und Problemwelten in Skulpturen aufgreifend,  assoziiert die Schlange als Symbol der Heilkunst (zum Teil magisch) auch die hoffnungsweckende Möglichkeit der Heilung und Verbesserung aus ungewolltem, krankhaftem und zerstörerischem Zustand.

Die Umsetzung von künstlerischen Ideen in Bronzekunst hat viel Gemeinsamkeiten mit meiner beruflich ausgeübten chirurgischen Arbeit.

Man muss vom Ende her denken: chirurgisch ist an sich nicht die „Ästhetik“ im operativen Situs entscheidend, sondern die durch den operativen Eingriff erzielte postoperative Funktion. Das operative Vorgehen muss am zu erwartenden postoperativen Resultat ausgerichtet und gemessen werden. Ebenso ist in der Bronzekunst beim Erstellen des weniger ästhetischen Wachsmodells die Einschätzung und Erfahrung wichtig, wie Formgestaltung und Oberflächenstruktur in Bronze wirken, und welche Oberflächenbeschaffenheit den gewünschten Effekt im patinieren erzielt. Oberflächenstrukrur und Form im Wachsmodell muss ausgehend vom erzielten Ausdruck und Effekt in der Bronzeskulptur und deren Patina gestaltet werden (siehe auch Rubrik auf Homepage: Eine Bronzeskulptur entsteht)

In krisengeschüttelten Lebenswelten muss auch Kunst in ihrem historischen Kontext Stellung beziehen. So soll Kunst durch ihre Ästhetik ansprechen, aber durch ihre Aussage wachrütteln, zum Nachdenken anregen und provozieren und neue Lösungsansätze stimulieren.

Wahre Kunst sollte versuchen (auch mittels ästhetischer Form) Zugang zu möglichst vielen Menschen zu bekommen; sie kann durch Abstraktion, Verfremdung und ausgewälte Symbolik die gezielt ausgedrückte Aussage pointierten und auch gesellschaftliche Fehlentwicklungen thematisieren und Mißstände kritisieren, aber sollte versuchen nicht durch deren künstlerische Stilmittel und Gestaltung Menschen vom Zugang wissentlich oder unterbewusst auszugrenzen. Das ist zugegebenermaßen nicht immer vereinbar, schafft Kontroversen und kann eine Gratwanderung sein und es sollte auch nicht zur Eingrenzung der künstlerischen Freiheit führen. Die Komplexität künstlerischen Ausdrucks und die vielfältigen Facetten möglicher Stilmittel und künstlerischer Darstellungsformen müssen gewahrt bleiben. Auch die Präsentation der Kunst (in Museen oder im öffentlichen Raum) muss versuchen die unterschiedlichen Zugangsebenen zwischen Künstler und Betrachter zusammenzubringen oder zumindest einander anzunähern und erklärend zu vermitteln.